Gesichter, viele Gesichter, menschliche Gesichter, Männer und Frauen, Kinder und Alte, feine und bäuerliche, einige prominent, andere unbekannt. Sie sind formatfüllend, ja, sie scheinen über das Papier hinauswachsen zu wollen: jeweils 42x29,7 cm. Alle schauen direkt aus dem Bild heraus, sie sehen die Betrachter*innen an, sie weichen dem Blick nicht aus.
Vielmehr scheinen sie den Blickkontakt zu suchen, einzufordern. Sie bestehen mit Nachdruck auf ihrem Recht der Sichtbarkeit.
Olga Stozhar hat sie gezeichnet. Es sind keine edlen Materialien, die sie benutzt; Kugelschreiber auf simplem chreibmaschinenpapier. Die Dringlichkeit ist dem Duktus jederzeit anzumerken. Hart gräbt sich die Spitze des Stiftes in die Oberfläche des Papiers, schnelle Bewegungen jagen schwarze, blaue oder seltener auch rote Bahnen über das Blatt.
Manchesmal ist die Energie von Druck und Tempo so hoch, dass das Papier reißt oder knittert. Bei genauem Hinsehen fällt auf, dass der Zeichenvorgang sogar das Format des Blattes verändert hat: das Papier wird auseinandergetrieben, wird stellenweise breiter und bricht aus der rechtwinkligen Präzision des Industrieproduktes aus. Die Behandlung von Olga Stozhar scheint Papier und Tinte zum Leben zu erwecken. Es ist aber auch spürbar: Hier ist Gewalt im Spiel, hier geht es ums Ganze!
In ihrer schieren Menge erzeugen die gezeichneten Gesichter an den Wänden eine intensive Atmosphäre, der man sich nicht entziehen kann. Die Forderung, die sie formulieren, ist klar und sie ist laut: Seht uns an, erwidert unseren Blick, wir sehen uch. An den Details von Frisuren, Schminke, Kopfbedeckungen oder Kleidung, die hier oder da zu finden sind, kann man die ebenszeit der abgebildeten Menschen in den 30er oder 40er Jahren des 20 Jahrhunderts verorten. Tatsächlich handelt es sich bei allen Abgebildeten um Opfer von faschistischer Gewalt. Jedes der Gesichter gehörte einem Menschen, der von den Nationalsozialisten in Ghettos oder Konzentrationslagern, während Pogromen, Polizei- oder Militäraktionen ihrer Rechte beraubt, erniedrigt und getötet worden ist. Die Künstlerin hat Fotografien in Büchern und Archiven aufgestöbert und bringt sie in der starken und beunruhigenden Installation zurück ans Licht, zurück ins Leben.
Olga Stozhar geht es aber weniger um eine Geschichtsstunde oder um Gesten der Betroffenheit. Sie macht sich Sorgen um unsere Gegenwart. Gemeinsam mit dem Holocaustüberlebenden und Autor Elie Wiesel ist sie davon überzeugt, dass allein aus der Erinnerung Hilfe für die Zukunft erwächst. Gleichgültigkeit macht Ausgrenzung und Übergriffe erst möglich. Unmenschlichkeit, Hass und Mitleidlosigkeit erwachsen aus Unwissen und Teilnahmslosigkeit. Darum will sie keine Handlungsanweisungen geben oder ihren Mitmenschen kluge Ratschläge erteilen. Ihr Werk will Kontakt herstellen, will Empathie erzeugen, will Gefühle hervorbringen – damit wir alle uns in den Augen, in den Blicken, in den Gesichtern, die uns ansehen, selbst wiedererkennen. Menschen mit Sehnsüchten und Ängsten, mit Abneigungen und Sympathien, Menschen voller Liebe.
PROF. DR. FRIEDRICH WELTZIEN