Mehr als drei Jahre arbeite ich an einem großen Projekt "They are Looking at Us" zur Aufarbeitung einer subjektiven Errinnerungsgeschichte und künstlerischen "Verlebendigung" der Opfer des Nationalsozialismus. Im Rahmen dieses Projektes sind bereits seit 2017 ca. 3500 Porträtzeichnungen entstanden.
Alle Bilder sind Porträts, die nach Archivfotografien von Opfern des Holocaust und nationalsozialistischer Verfolgung entstanden sind. Sie alle zeigen Gesichter, meist en face, gelegentlich auch im Profil. Manchmal sind die Gesichter überschnitten, was eine große Nähe erzeugt und vor allem die Augen, den Blick der Dargestellten, prononciert. Die porträtierten Menschen sind teilweise namentlich bekannt, mitunter prominent. Andere sind anonym geblieben und ihre Schicksale bislang unerforscht. Es sind Menschen aller sozialen Schichten und Altersgruppen darunter, ein Schwerpunkt liegt allerdings auf Kindern.
Die Blickbeziehung ist für das Konzept der Projekt entscheidend. Es geht nicht um eine Anklage, als vielmehr um die Herstellung einer emotionalen Beziehung. Die Menschlichkeit der Porträtierten soll wahrnehmbar gemacht werden in all ihren Widersprüchen, Verletzlichkeiten und Brüchen, damit eine Aktualisierung im Bewusstsein der Betrachter* innen gelingt.
Jeder Einzelne, die Augen jedes Einzelnen stehen im Zentrum des Projekts. Wichtigstes Ziel des Projektes ist es, dass die Augen der porträtierten Holocaust-Opfer den Augen der nächsten Generationen begegnen und mit ihnen kommunizieren. Durch die Augen der Porträtierten sollen die Betrachter das ganze Spektrum der Emotionen dieser Menschen spüren und Schmerzen und Betroffenheit über ihren Verlust entwickeln: Schau uns an, schau zurück, wir werden dich sehen.
Ich versuche, das fotografische Dokument als Impuls für meine Vorstellung zu benutzen, dass ich einer lebendigen Person begegnen und sie mit allen Facetten des Lebens und der liebenden Zugewandtheit umfangen kann. Ich sehe sie gebannt an und sie blicken auf mich zurück. Zentrum der Porträts sind die Augen. Ihrer Ausstrahlung in die Gesichtszüge hinein gehe ich nach.
Ich bediene mich dabei akribisch detaillierte Zeichnungen, über eine ekstatische Strichführung, über ganz unterschiedliche Verdichtungen und Leerstellen Rhythmisierungen zu erreichen, die das Gesicht als ein offenes Lebensfeld mit verschiedensten Entscheidungsmöglichkeiten und -richtungen darlegen. Das Anschneiden der Gesichter und die Fokussierung auf die Augen hebt ab auf ein dynamisches in Kontakt-Treten und Kommunizieren mit den Personen.
Ziel meiner Arbeit ist, mittels künstlerischer Mittel eine Verlebendigung der Opfer zu erreichen und es zu ermöglichen, dass die nachgeborenen Generationen in einen Dialog mit diesen verschwundenen Menschen als lebendige Personen eintreten können. Ich möchte nicht anklagen, sondern eine emotionale Beziehung aufbauen und die Verletztlichkeiten, Widersprüche, Unebenheiten im Menschlichen zeigen.
Wie der Holocaust-Überlebende Elie Wiesel bin ich auch davon überzeugt, dass eine bessere Zukunft allein aus der Erinnerung kommen wird. Gleichgültigkeit macht Ausgrenzung und Missbrauch möglich. Aus Unwissenheit und Apathie entstehen Unmenschlichkeit, Hass und Gefühllosigkeit.
Gegenwärtig ist ein Wiederaufleben von Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit überall zu spüren. Angst, Gewalt und Gleichgültigkeit gegenüber der Not anderer werden immer häufiger. Das Projekt "They are Looking at Us" ist daher nicht nur ein Appell und eine Mahnung. Vielmehr will es das Gefühl der Handlungsfähigkeit jedes Menschen sowie die Achtung vor der Würde jedes Menschen direkt fördern und stärken.
Das Projekt will Kontakt herstellen, es will Empathie erzeugen, es will Gefühle erzeugen - damit wir uns alle in den Augen, in den Gesichtern, die uns anschauen, wiedererkennen. Menschen mit Sehnsüchten und Ängsten, mit Abneigungen und Sympathien, Menschen voller Liebe. (siehe den Text von Friedrich Weltzien)
Hauptziel des Projekts ist es, die Erinnerung an den Holocaust wach zu halten und die nächsten Generationen ständig damit zu konfrontieren. "Es ist geschehen, also kann es wieder geschehen: dies ist ein Kern dessen, was wir zu sagen haben" . Das hat der Holocaust-Überlebende und Autor Primo Levi geschrieben. Die Erinnerung an den Holocaust sollte daher eine Warnung sein, dass Rassismus und Antisemitismus erhebliche Folgen haben können. Es liegt in der Verantwortung unserer Generation, den Ruf nach "nie wieder" weiter zu tragen.